Zur Arbeit

Die Arbeitsweise von Ben J. Riepe kann grundsätzlich als eine dynamische, sich ständig in Auseinandersetzung befindliche Form in progress verstanden werden. Diese Auseinandersetzung, in deren Zentrum uneingeschränkt der menschliche Körper steht, hat sich in den letzten Jahren konsequent und kompromisslos der Suche nach neuen ästhetischen Mitteln, Formen und Strategien zugewandt, die sich in starker Interaktion mit ortsspezifischen Raumstrukturen und dem Ausufern in angrenzende Kunstformen des Tanzes wie Musik, Performance, Installation etc. aufstellen.

Text, Bild und Sound bilden in den zahlreichen Bühnenstücken, Performances sowie Film- und Videoarbeiten die Grundpfeiler der künstlerischen Beschäftigung, auf denen die Elemente Körper, Raum, Zeit, Bewegung, Licht, Form und Abstraktion in einem schwebenden Verhältnis zueinander stehen. Mittels einer ästhetischen Befragung dieser Interdependenzen, insbesondere des Spannungsfeldes des Körpers zwischen Leib-Sein und Körper-Haben, Anwesenheit und Abwesenheit, Ausstellen und Aufführen, Subjekt und Objekt, Stillstand und Transformation, wird in jeder Arbeit aufs Neue die Schönheit erforscht. Dabei wird die Grenzlinie zwischen Bildender und Darstellender Kunst, Skulptur und Performance, Betrachtende und Betrachtetem, Objekt und Subjekt, Bewegung und Emotion überwunden und somit ein Spektrum aus unterschiedlichsten Formaten immer wieder neu collagiert. Innerhalb dieser hybriden Kunstform wird das künstlerische Vokabular entwickelt, das sich unaufhörlich und konsequent der Suche nach einer neuen Ästhetik des Ausdrucks verpflichtet, einer Ästhetik als Waffe – wenn man so will -, die das Publikum in seinem elementaren Erleben stärkt und die Verhältnisse der Kunst in ein schwebendes Miteinander überführt. In diesem Kosmos künstlerischer Ausdrucksformen bilden Raum und Zeit die fundamentalen Achsen, in deren Zentrum der Mensch und sein Körper steht: Als Medium und Resonanzraum, als Werkzeug, Zeuge und Erzeuger.

In den Choreographien voller mehrschichtiger Bewegungsbilder eröffnen sich neue Handlungsfelder als Übersprung zwischen Kunst und Begegnung, Ästhetik und Teilhabe, Raum und Gemeinschaft. Dabei ist die Frage nach den eigenen Bedingungen und Notwendigkeiten sowie das Arbeiten an der Grenze zum Flüchtigen zentral. Die Choreographie ist hier weit mehr als ein Arrangement tanzender Körper. Sie ist in erster Linie Strukturierung von Raum und Zeit. Sie ist aber auch sinnliche Erforschung emotionaler Tiefenschichten und Freilegung sinnlicher Erfahrungsräume, in denen ein Denken erst ermöglicht wird. Diese Erfahrungsräume faszinieren durch ihre Flüchtigkeit und entziehen sich gleichzeitig einer Festlegung, einer Interpretation. Dennoch wirken sie zwischen Begreifen und Entschwinden als Erinnerungsplattform lebendig weiter. Vielleicht ist ihre Wirkung gerade deshalb umso emotionaler.

Auf der stetigen Suche nach neuen konzeptionellen Umsetzungsmodi führt der künstlerische Weg in die Räume der Bildenden Kunst, wodurch die Arbeit nicht nur eine inhaltliche und formale Erweiterung erfährt, sondern auch serielle Arbeits- und Rechercheprojekte entwickelt werden können. Die Spitzenförderung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie der Stadt Düsseldorf und die langfristige Partnerschaft als „affiliated artist“ von PACT Zollverein in Essen ermöglichen zudem eine Produktionspraxis jenseits der konventionellen Ökonomien von Produzieren und Abspielen. Dieser vernetzende Aspekt zwischen den Sparten und Institutionen ist ein wichtiger Motor für die Adaption und Fortschreibungen der Arbeitsprozesse.

Sonntagsgespräche Goethe-Institut Polen

ARENA ARCTICA – Dokumentarfilm © Tim Lienhardt

periphere portrait © Klostermann & Mir

von PACT Zollverein, Essen, 2016

MEDO/ANGST Summer School – Dokumentarfilm © Lisa Viezens

Interview

Ben J. Riepe im Gespräch mit der Kunsthistorikerin Bianca Bachmann über seinen Ursprung als Tänzer, über das Wesen seiner Choreographie, die Arbeit mit dem menschlichen Körper, Tanz als nonverbale Sprache und größte Freiheit in der Kunst, Ästhetik als Waffe und Werkzeug, ephemere Skulpturen, die Suche nach Erkenntnis und über das, was seine künstlerische Zukunft bringt.

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Ben, du bist Choreograph, hast aber ursprünglich Tanz studiert. Wie bist du zum Tanz gekommen?

Ich habe mich eigentlich schon immer für verschiedene Kunstformen interessiert oder war davon fasziniert, schon als ganz kleines Kind. Ich habe einige sehr tiefe, prägende Begegnungen mit verschiedenen Künstlern, Ereignissen und Aufführungen gehabt. Und ich habe Theater auch immer selber gemacht; das war eigentlich immer mein Spiel als Kind. In meiner Jugend habe ich viel nach einer adäquaten Form, einer richtigen Sprache oder einem richtigen Material gesucht. Ich war schon immer nah dran am Theater, fand aber das Sprechtheater so einschränkend. Dieses Sprechen und dieses wahnsinnig expressionistische Theater im Sinne des klassischen Sprechtheaters hat mich eigentlich total abgeschreckt. Aber trotzdem war das Theater als Form oder als Haus oder als Ort für mich wahnsinnig faszinierend. Gleichzeitig fand ich Bildende Kunstausstellungen auch toll, aber selber zu denken: „Ich werde jetzt Maler oder Bildhauer oder so“ war mir dann doch auch zu wenig oder zu einsam… Ich habe viel überlegt und hab mir dann Tanz angeschaut. Aber Tanz hat mir eigentlich auch gar nicht gefallen. Das war mir viel zu formal, gerade Ballett, oder viel zu künstlich oder zu artifiziell, zu maniriert, zu stilisiert und ja, zu wenig echt. Bis ich mehrere Vorstellungen von Pina Bausch gesehen habe. Das hat mich ziemlich getroffen, weil so vieles zusammen kam von dem, was ich doch faszinierend fand am Theater, an dem Ort an sich: wie man dort ist, wie man sich dort trifft, wie man dort was anschaut und wie dort gespielt oder vorgespielt wird. Aber auch das Nonverbale, die Vielschichtigkeit, die vielen Ebenen – das hat mich einfach berührt. Und dann habe ich gedacht: Gut, vielleicht ist Tanz einfach der richtige Weg, dorthin zu gehen, wo ich hin will. Es hat irgendetwas mit Bildender Kunst zu tun, es hat irgendetwas mit Theater zu tun, aber beides trifft es nicht ganz. Und Tanz selber ist es eigentlich auch nicht.

Was bzw. wer hat dich als Tänzer inspiriert?

Ich habe bei Pina Bausch gesehen, dass sie einen Weg gefunden hat, über den Körper zu sprechen, in Bildern, in nonverbalen Ebenen, in emotionalen Schichten oder auch im Theater, wo das alles doch irgendwie zusammenkommt. Das war das, was ich versucht habe. Ich bin den Weg über den Tanz gegangen, aber mir war von Anfang an klar, dass das der Weg, aber nicht das Ziel ist. Ich fand eine gemeinsame Schnittmenge aus Tanz, Theater und Bildender Kunst, aus Bild, Sprache und Körper. Diese Direktheit und Freiheit des Körpers war der Grund, warum ich das Tanzstudium durchgezogen habe – sag ich jetzt, obwohl ich das vielleicht damals noch nicht so klar formulieren konnte. Ich habe das alles gar nicht unbedingt so toll gefunden, aber ich habe mir gedacht: Hier kann ich vielleicht meinen Weg finden.

Anfänglich war Tanz für dich also ein Weg, der dich dann weiter bringt, eine Möglichkeit, ein ganzes Universum zu entdecken. Was bedeutet heute Tanz für dich?

Tanz bedeutet für mich die größte Freiheit in der Kunst, weil Tanz wirklich unmittelbar mit dem Körper arbeitet. Tanz arbeitet nicht mit irgendeiner Vorgabe, nicht mit Text, nicht mit einer Partitur, nicht mit einem bestimmten Material wie Leinwand oder Stein, auch nicht mit einem Gerät wie einer Video- oder Photokamera, sondern wirklich nur mit dem, was man immer bei sich trägt. Das Instrument ist der Körper und der Rest ist offen. Der Rest, was man dann damit macht, in welcher Form, in welchem Raum, in welcher Begegnung, in welcher Präsentation und Darstellung oder Verkörperung oder Ereignis, ist Freiheit. In welche Form man geht, ist ganz frei und ganz offen. Das ist der Grund, warum es mich immer noch interessiert, mit Tanz zu arbeiten oder warum ich mich eigentlich immer noch als Choreograph bezeichne.

Der Übergang zur Choreographie war dann der Moment, indem du dich entschieden hast: Ich möchte aus diesem reichen Fundus heraus selber die Formen entdecken?

Ja, aber es sind verschiedene Punkte: Das eine ist, dass ich im Tanz von Anfang an etwas gesucht habe, was eigentlich sehr wenig im Tanz da ist und was ich selber nicht gesehen habe. Das war ja nicht sichtbar. Tanz selber hat mich ja nie wirklich so interessiert. Dennoch: Das, was mich interessierte, wollte ich im Tanz finden.
Der andere Punkt ist, dass ich selber nie großes Interesse daran hatte, auf der Bühne zu stehen. Ich habe das ganze Tanzstudium nur gemacht, um das Handwerkszeug zu verstehen. Ich habe nie dieses Gefühl genossen, auf die Bühne zu gehen. Selber tanze ich gerne, aber ich stelle nicht gerne etwas dar oder mag es nicht, angeschaut zu werden. Ich fand eigentlich immer schon den Blick von außen viel interessanter. Das alles selber zu erleben, selber zu produzieren.
Dann hatte ich dieses eine, wichtige Erlebnis als ich gegen Ende meines Tanzstudiums „Sacre“ von Pina Bausch getanzt habe. Es ist ein Stück, das ich immer sehr bewundert habe oder immer noch sehr bewundere. Ein Stück, das ich als DAS große Meisterwerk von ihr empfinde, in choreographischer Hinsicht vor allem. Doch in dem Moment, in dem ich das Stück tanzte, war es für mich eigentlich für viele Jahre zerstört, entzaubert, weil alles durchgezählt wird. Ich war nur noch mit Zählen beschäftigt. Es ging nur noch um Aufstellungen, um Formationen, um Reihen und darum, wo mein Platz ist, wo ich stehe. Ich habe alles nur von hinten gesehen und in die Gassen reingeschaut und dabei die ganze Kraft, die dieses Stück hat, wenn man es anschaut, verloren. Und auch viele Jahre danach, wenn ich das Stück gesehen habe, erging es mir ähnlich. Erst nach vielen Jahren konnte ich das Stück wieder neutral anschauen. Es ist für mich das Allerwichtigste, immer in jeder Probe „Draußen“ zu sein, von draußen diesen Blick zu haben, zu spüren und zu schauen. Ich kann stundenlang zuschauen. Ich liebe das.

Somit hast du zwei Perspektiven vereint: die Außenperspektive als Choreograph und gleichzeitig die Perspektive des Tänzers, der weiß, was es mit dem Körper macht.

Genau, aber ich habe mich fast direkt nach dem Tanzstudium komplett für diese eine Perspektive entschieden.

Aber die andere Perspektive schwingt mit?

Ja, immer.

Was würdest du sagen, was Choreographie für dich bedeutet?

Choreographie ist für mich eigentlich „nur“ Strukturierung von Raum und Zeit. Das bedeutet ganz viel und ist auch die große Freiheit: Es ist alles drin und alles möglich. Gleichzeitig ist es aber auch runter gebrochen und gibt mir diese Freiheit, dass ich sagen kann: Bei jeder Arbeit, bei allem was ich mache, inhaltlich, formal oder sonst was, überlege ich mir eigentlich jedesmal eine Strukturierung von Raum und Zeit. Wie lange ist das? Ist das durational, ist das eine Stunde, eine Bühnenarbeit, ist das im Museum, ist das in einer 3 × 3 m Box oder ist es auf vielen 1000 m²? Ist es zusammenhängend? Läuft man da durch, sitzt man oder macht man mit? All das ist Choreographie für mich. Aber auf den kleinsten Nenner runtergebrochen ist es eigentlich immer eine Strukturierung von Raum und Zeit.

Wo bzw. was ist der Körper in deiner Choreographie?

Der Körper ist das Thema, Inhalt, Medium, Austragungsort, Zeuge, Erzeuger. Der Körper ist das zentrale Sujet.

Stichwort: Heute. Was macht dich als Choreograph aus? Was macht deine Arbeit jetzt und heute aus? Welche Elemente sind in deiner Beschäftigung zentral?

Das Besondere meiner Arbeit ist vor allem das Genreübergreifende, anders gesagt, das schwebende Verhältnis von den vielen verschiedenen Elementen, mit denen ich arbeite, wie Bild, Text, Bewegung, Licht, Musik, Atmosphären, Raum, Körper. Jedes Element erhält mal die Führung. Es führt also nicht immer der Körper, das Thema oder der Inhalt, sondern es kann auch was ganz anderes sein, wie das Licht zum Beispiel. Das ist eine wichtige Sache für mich.
Ein weiteres, wichtiges Element ist die Bildsprache, das sehr Visuelle meiner Arbeit, die Ästhetik. Das ist gar nicht unbedingt etwas, was ich mir überlege oder forciere, sondern das ist einfach da und dient mir als Werkzeug. Das war schon immer da, schon bei meiner ersten Arbeit. Das habe ich gar nicht geplant. Als ich angefangen habe zu arbeiten, wusste ich selber gar nicht, dass ich so ein stark visueller Typ bin. Ästhetik ist die radikalste Sprache, die ich habe, um zu kommunizieren. Was mich interessiert, ist, das ästhetische Material zu verstehen, um es dann inhaltlich einsetzen zu können.
Neben dem Visuellen spielt das Musikalische eine wichtige Rolle. Es ist hintergründig und ganz anders als das Visuelle. Das Auditive ist etwas viel Feineres, was viel Zurückhaltenderes. Obwohl es hintergründig ist, also von hinten kommt, ist es sehr stark. Es interessiert mich auch immer mehr, mit dem Auditiven zu arbeiten, auch weil es für mich zwingend geworden ist. Ich ertrage Musik als Hintergrund nicht und muss immer zuhören. Es beeinflusst mich also fundamental! Aber auch das Visuelle ist wahnsinnig stark und wahnsinnig dominant. Vielleicht liegt dieses Verhältnis auch schon in der Anlage von Visuellem und Auditivem – das weiß ich nicht.
Als viertes Element ist der Mensch und sein Körper zentrales Thema in meiner Arbeit. Choreographie oder Tanz meint so oft eigentlich nur den Körper. Wenn ich von Körper spreche, dann meine ich aber all die Themen, die den Körper betreffen: Subjekt, Objekt, Leib, Verhüllen/Entblößen, Fleisch, Modifizieren, Altern, Entwicklung, Kind, Testosteron, Sterben, Tod, Körper als Instrument und Ausdruck, Geschlecht, Sex, Rausch, Körperkult, Kulturen und kulturelle Prägung, Repräsentation, Körperpolitik, Machtausübung und -auswirkung. Der Körper interessiert mich also nicht nur als Material und Form, als Objekt, sondern auch als Subjekt. Damit meine ich den Menschen innerhalb einer Gemeinschaft, seine Entwicklung, wie sich die Sinne entwickeln, wie sich das Verständnis entwickelt, wie wir die Welt verstehen. Dazu gehört aber dann auch die Kultur, die kulturelle Prägung und auch die Utopien, die Wünsche, die Veränderungen, die Wandlungs- und Handlungsmöglichkeiten. Also dieser ganze Aspekt, was der Mensch eigentlich wirklich bedeutet bzw. was es bedeutet, zu leben und zu handeln.

Was ist Bild oder Bildlichkeit für dich im Kontext der heutigen Zeit, in der alles über-medial, über-bildlich ist? Was hat Bild oder Bildlichkeit für einen Stellenwert in deiner Kunst?

Es existiert für mich auf jeden Fall diese ständige Hinterfragung: Was bedeutet Bild? Eigentlich ist Bild sehr gegenläufig zu Tanz, weil Tanz ja Bewegung ist, im Fluss ist. Das Bild aber ist immer etwas Angehaltenes, eine Momentaufnahme, etwas, das gar nichts mit Tanz zu tun hat. Das ist auch das, was meine Arbeit auf eine Art im Tanz so fremd und gleichzeitig interessant macht.
Wir leben in einem Bildzeitalter und auch in einem Ästhetikzeitalter, in dem alles ästhetisiert wird. Wir leben wie einem Photoshop-Zeitalter, in dem es um Stilisierung von Bild geht. Es funktioniert alles, das ganze Internet und die sozialen Medien, über Bild und gleichzeitig reduziert sich alles immer mehr auf das Bild. Das Bild fällt raus aus Zeit und Raum. In diesem Spannungsverhältnis zu arbeiten ist für mich interessant und gleichzeitig auch eine ständige Auseinandersetzung mit mir selbst. Ich frage mich: Was bedeutet es eigentlich, bildhaft, bildstark, visuell oder ästhetisch zu choreographieren? Im Idealfall wird die Ästhetik zu einer Waffe oder zu einem Werkzeug.

Bevor ich zum Schluss noch einmal auf das Bild bzw. auf das, was von diesem Bild, das du mit deiner Arbeit generierst, bleibt, zurückkomme, möchte ich auf ein weiteres Werkzeug zu sprechen kommen: der Körper. Die wichtigste Entwicklung der Performance Art war die Aufgabe des Körpers als vollständig beherrschbares Material und die Zurückgewinnung der Idee der Doppelung von Leib-Sein und Körper-Haben. Erika Fischer-Lichte schrieb in ihrem Buch „Ästhetik des Performativen” darüber folgendes: „Der Mensch hat einen Körper, den er wie andere Objekte manipulieren und instrumentalisieren kann. Zugleich aber ist er dieser Leib, ist Leib-Subjekt.“1 Wie erlebst du diesen Spagat, den der Körper mitbringt, also diesen dem Körper innewohnenden Dualismus zwischen Leib-Sein und Körper-haben? Wie gehst du damit als Choreograph um?

Dieser Dualismus ist in der Theatersituation sofort präsent für mich, weil es ja Menschen sind, die ich anschaue, wenn ich mich da hinsetze. Auf der anderen Seite schaue ich Körper an, die sich irgendwie bewegen oder die für mich irgendetwas versuchen, zu verkörpern. Das ist eigentlich immer das Thema. Allein schon dieser künstliche Akt, sich hinzusetzen und nicht mit jemanden zu reden, sondern den Körper anzuschauen und diese Distanz zu haben, ist eine merkwürdige Erfindung. Da ist sofort immer dieser Dualismus präsent und erzeugt eine Spannung. Hier fängt es an, für mich interessant zu werden, weil es immer so hin und her wechselt. Diese Körper, die ich da sehe, diese Menschen werden zu Projektionsflächen. Es entsteht eine Verallgemeinerung und auf der anderen Seite aber auch eine Identifizierung. Diesen Gedanken weiterzutreiben interessiert mich sehr. Deswegen arbeite ich auch soviel mit Maskierungen, mit Verhüllen oder Entblößen, Zeigen und Nicht-Zeigen des Körpers. Gerade das Gesicht finde ich sehr interessant. Wenn man das Gesicht sieht, sieht man auch gleichzeitig den Menschen. Wenn das Gesicht aber verhüllt ist, verschwindet die Persönlichkeit, die Identität. Man sieht nicht mehr, wer das ist. Übrig bleibt nur noch Körper. Diesen Prozess zu sehen und mich noch tiefer mit dem Dualismus des Körpers auseinanderzusetzen, das fasziniert mich.

Laut Erika Fischer-Lichte wird genau in diesem Moment, in dem der „Wechsel“ zwischen Subjekt und Objekt stattfindet (und in dem der Kunst-Körper trotz absoluter Freiheit eben nicht auf Subjektivität reduziert wird, sondern das Konzept erkenntlich bleibt), Performanz hervorgebracht. Wenn dies der Fall ist, können die Grenzen zwischen Performer*in und Publikum, zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Bewegung und Emotion verschwimmen.2

Ja, das ist zentrales Thema von „Untitled: Persona“ und eigentlich meine Hauptsuche.

Wenn du von Suche sprichst: Du bist als Künstler ein Beobachter, ein Sucher, ein Re-Akteur. Was beobachtest du, was suchst du oder worauf reagierst du?

Ich versuche, verschiedene Ebenen in mir reagieren zu lassen. Das eine sind wirklich Dinge, d.h. ich beschäftige mich inhaltlich mit Themen wie Subjekt/Objekt. Diese Beschäftigung gründet aber eigentlich auch schon auf etwas, auf das ich automatisch reagiert habe. Oft kommt eine Reflexion im Nachhinein. Dann denke ich mir: Warum interessiert mich das eigentlich? Was mache ich da eigentlich?
Diese Denkprozesse dauern über viele Jahre. Am Anfang ist es oft etwas, das mich einfach triggert, ganz unbewusst. Ich sitze oft acht Stunden am Tag und schaue, was die Tänzer*innen so machen und reagiere dann irgendwann darauf. Ich versuche, mich selbst zu beobachten und glaube daran, dass man Dinge abgespeichert in sich trägt, die aber nicht nach gut oder schlecht sortiert sind. Oft weiß man auch nicht mehr, woher die Dinge kommen und man denkt sich: Da war doch irgendetwas. In solchen Momenten versuche ich immer, eine Hygiene in mir selbst zu betreiben, um die Dinge, die ich erinnere, wieder zu sortieren. Ich frage mich dann: Was ist der Impuls dahinter, dass ich jetzt reagiert habe. Reagiere ich aus einer Erinnerung heraus, weil ich was gesehen habe oder ist das etwas, was mich bewegt oder berührt hat? Oder war es etwas, was eine Idee oder eine Ahnung in mir hervorruft? Oder ist es eine Erinnerung von irgendetwas, was ich eigentlich gerne aussortieren möchte?
Letztendlich geht es mir beim Suchen, Beobachten und Reagieren immer um ein Erleben, um ein Erfahren, wenn möglich mit allen Sinnen und dem Kopf, als Sinnesorgan gedacht.

Geht es auch um Erkenntnis?

Es geht auch um Erkenntnis, aber nicht im theoretischen Sinne, sondern eher durch Erfahrung. Das finde ich auch wichtig, aber es geht vielmehr darum, an andere Schichten zu kommen, an nonverbale Schichten. Deswegen interessiert mich Tanz als nonverbale Sprache, genau wie Musik. Es lässt sich nichts übersetzen. Das ist das Interessante daran. Sonst könnte man ja ein Buch darüber schreiben. Die Bücher sind natürlich wichtig und ich lese sie auch sehr gerne, aber das sind eben immer nur Annäherungen an etwas. Man braucht 1000 Worte um etwas zu beschreiben. Ich suche nach dem Davor, vor dieser Beschreibung. Und das finde ich in der Erfahrung von Dingen, die ich erlebe, wenn ich Menschen, Objekte, Lichter, Nebel und Zuschauer*innen über Stunden anschaue und darüber nachdenke: Was macht das eigentlich alles miteinander?

Zu deiner Arbeitsweise: Was mich sehr fasziniert, ist, wie offen du mit deinen Tänzer*innen arbeitest und nicht die alleinige Autor*innenschaft für dich reservierst, sondern die Tänzer*innen miteinbeziehst in deine Überlegungen. Was bedeutet diese Autonomie für dich? Ist es eine Art Freiheit?

Diese Autonomie ist nicht einfach nur eine Freiheit, denn es kostet uns alle sehr viel. Man muss sich viel aneinander abarbeiten und eine Mischung finden. Einerseits bringt jede*r etwas rein, andererseits bin ich dann derjenige, der als einziger draußen ist und entscheidet oder sehr viel an Richtungen von außen vorgibt, aber gleichzeitig sehr viele Impulse immer wieder aufnimmt. Es ist ein ständiger Dialog, der bereichernd, aber auch gleichzeitig anstrengend ist und der viel Zeit braucht. Wir reden sehr viel, wir probieren sehr viel, ich beobachte sehr viel. Alles dauert sehr lange und wäre vielleicht schneller, wenn ich das einfach selber entscheiden würde. Aber daran glaube ich nicht. Ich glaube daran, dass ich gar nicht so gut oder so klug bin und mir gar nicht alles ausdenken könnte. Ein wirklich gutes Kunstwerk ist mehr als nur der*die Künstler*in. Da müssen ganz viele wichtige Momente passieren, da müssen wichtige Begegnungen stattfinden, da müssen viele Menschen zusammenkommen. Und selbst wenn man als Künstler*in alleine ein Werk erschafft, ist es ja nicht isoliert von der Welt, sondern das alles schwingt mit. Deshalb sind meine Prozesse immer sehr stark dialogisch.

Apropos Dialog: Themen in andere Kontexte zu setzen versuchst du ja auch, in dem du zu deinen Produktionen immer wieder Gäste, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Musiker*innen einladest. Wie wichtig ist dir dieser interdisziplinäre Dialog?

Ich finde diesen Dialog wichtig, aber das muss man sehr vorsichtig oder sehr behutsam machen. Man muss sehr genau überlegen, wie man reden möchte, wie man sich begegnen möchte.
Sich einfach nur mit irgendwelchen Leuten auszutauschen, funktioniert oft nicht, man braucht vielmehr eine gemeinsame Einbettung. Erst jetzt fange ich eigentlich an, immer mehr und mehr Möglichkeiten oder Kontexte für mich zu finden, um in einen Dialog mit anderen zu treten. Es gibt tausende von Austauschplattformen – ich habe auch schon an vielen Künstler*innenaustauschen teilgenommen -, aber meistens geht es gar nicht um das, was man sich erzählen kann oder wo man auf einer Augenhöhe in Dialog treten kann. Es ist wahnsinnig schwer, eine gemeinsame Sprache zu finden und in einen Dialog zu treten. Meistens funktioniert es nicht, das ist meine Erfahrung. Wenn’s aber klappt, ist es wunderbar und so wichtig, dass es zur Notwendigkeit für mich geworden ist.
Ich habe viele Jahre selber probiert und mich dennoch nicht viel ausgetauscht. Es ging gar nicht, weil man einen sehr klaren Standpunkt braucht. Die meisten Austauschformate sind für junge Künstler*innen. Ich glaube, das funktioniert nicht, denn man muss sich selber sehr klar sein, um sich austauschen zu können. Das heißt aber nicht, dass sich dann nichts verändert. Die Sichtweisen verändern sich ja trotzdem die ganze Zeit. Ich widerspreche mir bestimmt auch alle halbe Jahre. Aber man braucht eben einen sehr klaren, langjährigen, eigenen Forschungshintergrund, um wirklich begegnen zu können. Vielleicht bin ich jetzt bereit dazu.

Du bist viel unterwegs. Hast Residenzen auf der ganzen Welt. Was bedeutet das Reisen für dich. Was nimmst du mit? Was bringst du mit?

Das Reisen ist sehr wichtig und sehr zentral. Darüber zu reden ist gar nicht so einfach, weil schnell Plattitüden daherkommen, wie: Man sieht die Welt mit fremden Augen… Aber, es ist doch so: Wenn ich unterwegs bin, wenn ich Vorstellungen habe oder mit Leuten vor Ort arbeite und über meine Arbeit sprechen muss, muss ich sehr schnell formulieren. Ich muss sehr schnell auf den Punkt kommen und das dann oft auch in einem fremden Kontext. Dabei überprüfe ich mich selbst immer automatisch. Es ist so, als würde ich alles noch einmal mit einer anderen Brille anschauen, als würde ich mich selber durch ein Brennglas noch einmal ansehen. Und gleichzeitig schieben sich neue Filter darüber, die wieder sehr bereichernd sind. Ich war beispielsweise während des Referendums in Griechenland und habe nicht die deutsche, sondern die griechische Perspektive gesehen. Ich war auch zur Zeit der großen Massenvergewaltigungen in Indien und habe „Don’t ask, don’t tell“ gemacht, ein Stück über Erotik, aber mit Männern. Ein Stück über Erotik in Indien und Europa und über Erotik in der Kunst. Dann waren diese ganzen Vergewaltigungen damals 2012.
Man sieht die Dinge noch einmal neu, was sehr wichtig ist. Und dadurch, dass ich nie einfach nur irgendwohin reise – ich bin selten irgendwo nur eine Woche, das passiert natürlich auch, dass man wo spielt und dann einfach wieder abhaut -, sondern meistens länger mit den Leuten vor Ort arbeite, verbinde ich mich sehr mit dem Ort. Ich rede viel, ich frage viel und komme nicht drum herum, mich damit zu beschäftigen, wo ich eigentlich bin. Das ist sehr beeinflussend. Es geht auch gar nicht anders als mit einer starken Einlassung. Diese Einlassung verändert, verschiebt und erweitert meine Sicht auf die Dinge. Es bringt die ganzen Themen und Inhalte noch einmal in ganz andere Kontexte. Diese Erfahrungen nehme ich mit nach Hause. Sie werden immer wichtiger für mich.

Stichwort: ephemere Skulpturen. Du kreierst in deinen Arbeiten ephemere Skulpturen, die in dem Moment entstehen, indem sie das Publikum wahrnimmt, also im Moment der Konfrontation. Deine Aufführungen, deine Performances sind also skulptural bzw. werden eben in dem Moment skulptural, in dem sie auf ein Gegenüber treffen. Aber sie sind auch ephemer, das heißt sie schwinden. Da stellt sich die Frage: Was bleibt, wenn „nichts“ bleibt?

Das ist für mich gerade auch etwas, worüber ich viel nachdenke oder woran ich viel probiere, weil ich das auch an vielen Stellen selber nicht fassen kann. Ich meine: Tanz ist eigentlich, rein theoretisch, die ephemerste Kunstform überhaupt. Selbst bei einem Theaterstück hat man immer noch den Text oder etwas Ähnliches in der Hand. Ein Tanzstück aber ist flüchtig. Tanz ist die flüchtigste Kunst. Es gibt immer den Wunsch, dass man das festhalten will, aufzeichnen will. Oder das man schon so choreographiert, dass es wiederholbar ist. Aber dieser flüchtige Moment ist nicht wiederholbar. Live ist nicht wiederholbar. Es ist jedes Mal anders. Jedes Publikum bringt eine andere Stimmung mit rein, man selber bringt was anderes mit rein. Es ist immer anders. Dieser Gedanke war Anlass für mich zu fragen: Wie kann ich den umgekehrten Weg gehen und es eigentlich noch flüchtiger machen? Und: Was ist eigentlich das Besondere dran, was ist das Magische daran?
Es ist dieser Moment, dass auf einmal irgendetwas zusammen kommt. Manchmal passiert es, manchmal nicht. Es kann sogar sein, dass bei ein und demselben Stück der magische Moment manchmal kommt und manchmal nicht, manchmal an der einen Stelle, manchmal an einer ganz anderen Stelle. Es ist irgendwie immer anders. Ich habe mich gefragt: Was kann das sein?
Daher kommt es auch, dass ich angefangen habe, diese Prozesse dann wirklich live zu steuern, wie es bei „Untitled: Persona“ der Fall war oder bei „Livebox: Persona“ noch mehr geworden ist und eigentlich auch noch mehr in diesen Formaten so werden soll. Man muss natürlich auch viel ertragen, um dahin zu kommen. Man kann es auch ein bisschen provozieren oder einen Grund dafür bereiten. Ich schmeiße dann alle Elemente, die ich habe, rein und versuche sie in einem schwebenden Verhältnis in der Luft zu halten. Dann gibt es irgendwie diesen Moment, diesen elektrischen Schlag oder dieses Kribbeln. Das ist dann der besondere Moment, in dem alles zusammen kommt.

Aber glaubst du, dass dieser Moment individuell ist? Liegt diese ephemere Skulptur vielleicht gar nicht im Kunstwerk selbst, sondern im Betrachtenden?

Ich glaube, das hat ein bisschen was von allem. Mal liegt er im Betrachtenden, mal liegt er zwischen den Performer*innen, mal ist er im ganzen Raum, mal erfasst er alle. Das gilt ganz allgemein in der Kunst oder auch im Leben. Manchmal ist es aber vielleicht was zwischen zwei Leuten oder zwischen einem Performer und einer Zuschauerin. Oder nur ich als Choreograph erlebe einen magischen Moment, das kann natürlich sein. Ich glaube, es gibt alles und ich frage mich auch immer, was es noch sein kann. Die Inder*innen glauben beispielsweise an die „Rasa“. Sie beschreibt eine Einstellung, eine Haltung, ein Eingestimmt-Sein des*der Zuschauer*in und eine Offenheit für das Empfangen des magischen Moments. „Rasa“ ist eine Einstellung, die man braucht, um sich ein Theaterstück oder ein Kunstwerk anzuschauen. Eine ganz alte und schöne Idee.

Eine mir bekannte Künstlerin sagte einmal im Gespräch, dass Erkenntnis die reinste Skulptur überhaupt ist. Wenn deine ephemeren Skulpturen schwinden, ist es dann die Erkenntnis, die bleibt? Die Erkenntnis nicht im Sinne von Wissen, sondern im Sinne von emotionaler Erregung, von Erkennen? Bleibt von einem Kunstwerk vielleicht nur das, was durch dieses Kunstwerk hervorgebracht wurde und weiter getragen wird?

Ja, oft erinnert man sich an irgendein Bild, einen Text, eine Musik oder irgendetwas Diffuses. Aber die stärksten Erinnerungen sind die, bei denen man berührt war oder die mit einem etwas gemacht haben. Das ist es, was man erinnert, wenn’s gut war.

Stichwort: Zukunft. Was bringt die Zukunft? Wird es eine künstliche Verdichtung hin zu einem Thema geben?

Das kann man immer schwer sagen … Ich habe das Gefühl, dass es nochmals stärker eine Fokussierung und gleichzeitig eine Öffnung geben wird. Einerseits eine Fokussierung auf Körper und Mensch und andererseits eröffnet sich für mich immer wieder neu und stärker, in welchen Genres ich arbeite oder an welche Genregrenzen ich gehe. Ich kann mir jetzt zum Beispiel auch vorstellen, mit Text zu arbeiten. Jetzt, weil ich solange durch dieses Nonverbale durchgegangen bin. Oder auch mit einer feststehenden Musik zu arbeiten, mit einer Partitur. Ich kann mir vorstellen, dass ich genug Autonomie entwickelt habe, um mich daran zu trauen bzw. dass mich das nicht niederknien lässt oder in eine Zwangsjacke bringt. Das ist auch eigentlich wie eine Fokussierung, wie eine Struktur, die dann auch immer Freiheit bringt. Letztendlich hat es so immer am besten für mich funktioniert: Wenn ich mich sehr eingeschränkt habe, wird die Arbeit am weitesten, am reichsten, am offensten. Ich kann mir vorstellen, dass sich diese Sortierung von Fokus und Öffnung in Zukunft noch stärker manifestiert.

Welche Themen fokussierst du dabei?

Auf der einen Seite interessiert mich die Macht über den Körper bzw. die Machtausübung im Sinne von Verhüllen und Entblößen, was ich über eine ganz andere Schiene von Subjekt-Objekt und Identität jetzt sehr viel bearbeitet habe. Aber das nochmal von außen als ein Machtverhältnis zu sehen, das interessiert mich gerade sehr. Dann interessiert mich überhaupt der Körper und noch viel mehr, das Fleisch des Körpers als Material und Erzeuger von Klang stärker zu thematisieren. Aber auch das Bild an sich interessiert mich bzw. darüber nachzudenken: Was ist das Bild? Was bedeutet das Bild? Und was bedeutet das jetzt gerade für mich?
Ein weiterer Fokus liegt auf Körperbildern und einer Verbindung mit dem Thema Fleisch: vom Fleisch zur Erregung. Dabei beschäftige ich mich mit dem Thema „Carne vale“ im Sinne von Karneval, von Rausch, von Entgrenzung, von Erregungen. Aber gleichzeitig auch im wörtlichen Sinne, also, dass man dem Fleisch entsagt, absagt. Es interessiert mich auch, noch einmal zu hinterfragen, was das Fleisch eigentlich bedeutet, in so einer Körperlichkeit, in so einer Bühne und in so einem performativen Kontext.
Auch die Autonomie der Körper fasziniert mich. Karneval ist so ein Moment, wo einmal ein Tag lang jeder Mensch machen kann, was er will. Es ist wie eine verordnete Anarchie und diese Anarchie des Körpers, die interessiert mich sehr. Es ist ja unfassbar, was es für Formen gibt, die da entwickelt wurden. Einerseits sowas wie Brasilien: fast komplett nackt in einem Rauschzustand. Und dann wieder ganz anders: dieses alpenländische, komplett Verhüllte, Entfremdete mit Tiermasken und wahnsinnig tollen Musiken, Klängen und Gesängen. Es gibt ganz viele Aspekte, mit denen ich mich beschäftigen möchte. Aber das ist alles schon Performance und schon aus sich heraus so gut, dass man da gar nichts mehr zu machen muss. Trotzdem interessiert es mich, diese verschiedenen Formen kennenzulernen und darüber nachzudenken: Was erzeugt der Körper? Was macht der Körper oder was kommt da raus? Was kann er? Was kann er nicht? Was tut er? Was bedeutet es, einen Körper zu haben oder was bedeutet es, überhaupt hier zu sein?
Mit diesen ganzen Entwicklungen, von Geburt bis zum Tod, beschäftige ich mich. Auch mit dem Erkennen: Wie funktioniert Erkenntnis? Wie funktioniert die Entwicklung von Sinneswahrnehmung und wie nehmen wir die Welt wahr? Die nehmen wir ja über die Sinne wahr. Das ist das, was mich interessiert am Theater und am Tanz: Erkennen, Erkenntnis. Und das ist ja der Körper. Das ist nicht etwas Abstraktes, sondern das ist Leben, das ist Mensch. Was ist also Mensch, Materie Mensch, Projekt Mensch?
Diese Auseinandersetzung ist zwar wahnsinnig breit, aber es rutscht auch sehr zusammen: Realität und Kunst. Das finde ich gut. Ich frage mich eigentlich immer: Was macht das für einen Sinn, Kunst zu machen? Macht das überhaupt Sinn? Brauchen wir das? Ja, aber es muss mit dem Leben zu tun haben.

[1] Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2014, 129.
[2] Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Performing Emotions. How to Conceptualize Emotional Contagion in Performance, in: Sabine Flach, Daniel Margulies, Jan Söffner (Hg.): Habitus in Habitat I. Emotion and Motion, Bern u. a. 2010, 25-40.